Kathrin Racz

Erahnen was mal war


18. November - 24. Dezember 2016
Vernissage: Donnerstag 17. November, 18h


Was war? War es wirklich so? Was ist? Was wird sein? Wie verlässlich ist die Erinnerung? Stimmt sie oder erschafft sie eine neue Wirklichkeit?

Diese Fragen stehen im Zentrum von Kathrin Raczs neueren Arbeiten. Die Künstlerin beschäftigt sich mit dem Phänomen der Wahrnehmung, der Erinnerung und der Zeit, indem sie die Malerei als Medium der Reflexion einsetzt.

Wir wissen, dass Erinnerungen nie objektiv sind. Das meiste geht vergessen, anderes wird aufgrund von neuem Wissen, neu gemachten Erfahrungen, oder veränderter persönlicher oder gesellschaftlicher Situation neu interpretiert. Visuelle Arbeiten – Malerei, Fotografien oder Videos – verändern sich in der Regel nicht (sieht man von in den Arbeiten angelegten Prozessen oder Alterungserscheinungen ab). Was sich aber stetig verändert ist der Blick der Betrachterin, des Betrachters aber auch der Künstlerin und des Künstlers. Dies gilt besonders auch für den (retrospektiven) Blick der Künstlerin auf die eigene Arbeit, dem als Bestandteil des künstlerischen Arbeitsprozesses oft wenig Beachtung geschenkt wird.

Ausgangslage der hier gezeigten Serie Erahnen was mal war, war die Beobachtung der Künstlerin Kathrin Racz dass viele ihrer eigenen, älteren Arbeiten nicht mehr ihrer aktuellen Arbeitsweise entsprechen. In einem Prozess der «Ausmusterns» wurden diese aus Werk und Atelier getilgt. Dieser subjektive Reflexions- und Entsorgungsprozess verschärfte sich als Reaktion auf das Zeitgeschehen: Die Enthauptung des U.S. Journalisten James Foley im August 2014, und insbesondere die anschliessende Veröffentlichung der Hinrichtung im Netz, stellte für Racz einen Wendepunkt ihrer politischen Wahrnehmung und in Folge auch ihrer Arbeit dar. Die figurative Malerei, verbunden mit der gesamten Art und Weise, wie sie bis zu diesem Zeitpunkt gearbeitet hatte, waren ihr plötzlich unerträglich: Zu verspielt, zu privat, zu wenig relevant, manchmal auch zu unreflektiert.

Als Konsequenz aus diesem Empfinden hat Racz während über einem Jahr fast obsessiv alte Arbeiten mit Streifen überdeckt. Der Titel der Serie (und auch der Ausstellung) bezieht sich einerseits direkt auf die Bilder, die sich unter der Übermalung teilweise noch schemenhaft erahnen lassen. Andererseits bezieht sich dieser Titel auch auf das veränderte politische Klima. Das Flüchtlingselend, das Erstarken von rechtsnationalen Bewegungen, die ständig wachsende Missachtung von Menschenrechten, aber auch die Atomisierungs- und Individualisierungsprozesse in der Gesellschaft lassen nur noch erahnen, was (vielleicht?) einmal war.

Zerstörte oder entsorgte künstlerische Arbeiten gehen oft endgültig vergessen und existieren höchstens in der Erinnerung. Der Prozess des Übermalens und erneuten Zeigens dieser Arbeiten thematisiert ihr Verschwinden, eröffnet aber gleichzeitig neue Perspektiven für Betrachter und Künstlerin. Der Betrachter kann versuchen, zu erahnen, während es der Künstlerin frei steht, das Darunterliegende aus der Erinnerung zu schildern – und wie in der Erinnerung kann das Gewesene in der Erzählung verändert, neu zusammengesetzt, verdichtet, übertrieben und auch schöngeredet werden.

Die Geste des Übermalens greift die Künstlerin auch in der Serie der Suppenschüsseln und Zuckerdosen auf, in der sich diese Auseinandersetzung um eine ironische, humorvolle, beinah groteske Komponente erweitert. Hinter der grellen Farbigkeit der Streifen verbirgt sich ein Memento- Mori. Auch hier geht es um das Auslöschen einer älteren Oberfläche und die Spuren der Zeit. Als Keramikobjekte aus Familienbeständen und Brockenstuben wecken sie Erinnerung an eine Zeit, in der noch in eigens dafür gedachten Gefässen gepflegt der Nachmittagstee oder die Vorspeise serviert wurden – doch hier wird die solide, bürgerliche Substanz der Gefässe aus ihrem Inneren heraus hinterfragt.  

In einer weiteren Arbeitsphase entstand die Serie Jetzt, in der die Streifen nichts überdecken, sondern auf frischen Leinwänden und Karton entstehen. Aus der beinah meditativen Erfahrung des Streifenmalens, ganz dem Moment verpflichtet, geht es hier nur um den Akt des Farbauftrags – ganz im Sinne von  Dubuffet, der gesagt haben soll,  dass Malen schlicht und einfach Farbe auf einen Untergrund auftragen sei. Der «Grund» des Malens in der doppelten Bedeutung eines Sinns und einer Unterlage fällt hier zusammen. Die physische Präsenz überwiegt die Frage nach der zeitlichen Axis, nach Erinnerung oder Zukunft. Dennoch ist es der Umgang mit ebendieser Zukunft, welche die Künstlerin in einer nächsten Arbeitsphase erkunden möchte, in der vielleicht auch die hier gezeigten Arbeiten wieder verworfen oder weiterbearbeitet werden – doch auch dies können wir jetzt nur erahnen.

 

Kathrin Racz (*1956) lebt und arbeitet in Bern. Ihre Arbeiten wurden bisher in mehreren Einzelausstellungen in der Schweiz, sowie in Frankreich, Österreich und Kenia gezeigt. 2009 war sie Artist in Residence in Nairobi.

CV und Bilder